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„Jenseits des Dazwischen“: Schreiben in fremder Sprache – Teil II


9. Juli 2020

Dr. Kerstin Schimmel im Gespräch mit Dr. Hans-Christian Trepte

 

In der letzten Woche haben wir über das Schreiben in einer Sprache, die nicht die native language ist, gesprochen, über die Schwierigkeiten, aber auch über die Chancen und innovativen Impulse innerhalb der deutschsprachigen Literatur. Gibt es nicht eigentlich selbst in der deutsch-deutschen Literatur Unterschiede und unterschiedliche Codes?

Selbst in der „traditionellen“ deutschen Literatur im engeren Sinne gibt es zum Einen regionale Unterschiede, zum Anderen vor allem auf die Teilung Deutschlands zurückzuführende Unterschiede. Verwiesen sei auf die evidenten regionalen Unterschiede zwischen Bayern und Norddeutschland, Sachsen und dem Rheinland sowie den Ost-West-Bezug, übrigens nicht nur im deutschen, sondern auch im gesamteuropäischen Kontext. Das betrifft  nicht nur unterschiedliche Realien, unterschiedliche sprachliche Standards und Schlüsselwörter wie z.B. die Angabe der Urzeit, der sich (vom MDR abgesehen) zumeist nach dem „westlichen“ Sprachgebrauch der Medien richtet.

Das weitgehende Übergehen des „Ostens“ betrifft nicht nur „Ostdeutschland“, sondern das gesamte vernachlässigte östliche Europa. Das führt zu einer  besondere sprachliche Sensibilisierung gegen eine aufoktroyierte Sprache. Wenn eine Zeitung z.B. tituliert, dass George Michael „an Weihnachten“ gestorben sei, sieht sich der ostdeutsche Leser bemüht, diese Aussage zu verifizieren, ist doch der Sänger „zu Weihnachten“ und nicht „an Weihnachten“ und dazu „an Herzversagen“ „zu Weihnachten“ verstorben. Diese Unterschiede zwischen dem immer noch bestehenden Ost- und West-„Talk“ wird wahrscheinlich mit den nachkommenden Generationen verschwinden.

Andererseits werden Ostrealien wie auch sprachliche Gewohnheiten bei literarischen Stimmen des Ostens selbstbewusst herausgestellt und funktionalisiert. Zumeist müssen die aus dem Osten kommenden Schriftsteller ihrem Leser im Westen östliche Belange erst einmal nahbringen. Dabei befinden sie sich in einer Zwickmühle, fühlen sie sich nicht selten verloren, „Lost in Translation“, wie es die aus Polen stammende und in englischer Sprache schreibende Eva Hoffman in ihrem gleichnamigen Roman ausdrückte. Dabei geht es nicht nur um den Übersetzungsprozess in all seinen Facetten, sondern um das Erläutern, welches das „Sich-Erklären-Müssen“ mit einschließt, ganz im Sinne: „Wie sage ich es nur dem Westen?“ Es ist eine zentrale Frage, der sich Schriftsteller aus dem Osten bis heute immer wieder stellen müssen. Sprachlich-poetologische verlangt das Schreiben eines Essays in der erlernten Sprache andere sprachliche Voraussetzungen und Fertigkeiten als das Verfassen eines Gedichtes und Fragen der Identität wie auch des „Zuhause-Seins“ stellen sich auch in diesem Zusammenhang zumeist ganz anders.

 

Wie hat sich dabei das Verhältnis von Sprache und Identität entwickelt und welchen Bezug gibt es dabei auf das Verständnis des immer wieder unterschiedlich interpretierten Heimatbegriffs?

Im 19. Jahrhundert wurde im Zusammenhang mit der Auffassung von der Sprachnation die Sprache an sich als das wichtigste Kriterium ethnischer Identität angesehen, mit schwerwiegenden Folgen, dem Zerfall pluriethnischer, multikultureller Staaten wie Österreich-Ungarn. Häufig haben wir es nicht mit festgelegten, sondern bipolaren, fließenden, wechselnden sowie Mehrfachidentitäten zu tun. Eine erzwungene Entscheidung für eine Identität stellt gerade in ethnisch gemischten Gebieten ein bis heute schwerwiegendes, vielschichtiges Problem dar. Mehrsprachige Schriftstellern wie auch Sprachwechsler wollen sich nicht festlegen lassen, entweder sie greifen zu einer übergeordneten europäischen Identität oder sie stellen eine ethnische und kulturelle Identität bewusst in Frage. Nicht selten sind sie sich ihrer Identität nicht bewusst bzw. erfahren ihre ursprüngliche Identität erst verspätet. Darüber schreibt z.B. Katja Petrowskaja in ihrem Roman mit dem sprechenden Titel Vielleicht Esther (2014), in dem sie die eigene Herkunft wie auch die Namensidentität hinterfragt.

Fremdzuschreibungen wie stereotyper Erwartungen lösen nicht selten auch Identitätskrisen aus. Im engen Zusammenhang damit steht ein in der zeitgenössischen Literatur häufig anzutreffendes Phänomen, nämlich die Spurensuche nach dem Verschwundenen. Mit Hilfe der Literatur gilt es „Welten retten zu müssen, die es nicht mehr gibt“ (I.B. Singer). Es sind zumeist Reisen in die Vergangenheit der eigenen Familie, bei denen sich der Autor den „Windmühlen der Erinnerung“ stellen muss (K. Petrowskaja). Zugleich soll aber auch dem Westen jene weitgehend unbekannt gebliebenen, häufig ignorierten bzw. tabuisierten Geschichten aus dem „anderen Europa“ (Philip Roth) erzählt werden.

Brygida Helbig, die erst im Erwachsenenalter erfährt, dass ihr Vater kein – wie bisher geglaubt – patriotischer Pole, sondern ein Galiziendeutscher war, verfolgt in ihrem Roman Niebko (2013, 2019 in deutscher Übersetzung als Himmelchen) die Schicksalswege ihrer Eltern. Dabei erläutert sie die vielfältigen Gründe, die zu oft mehrfach vollzogenen Identitätswechsel führen. Für die Kinder- und Enkelgeneration von (E)Migranten scheint eine abwägende Insider- und Outsider-Perspektive, ein kritischer Blick von innen wie von außen, zutreffend zu sein, der als funktionalisierte textuelle Inszenierungsform dienen kann. Literarische Werke dieser Art können auch einer „Wurzelliteratur“ zugerechnet werden. Dabei geht es nicht um eine Wurzel im herkömmlichen Sinne, sondern zumeist um ein Rhizom, ein ganzes Wurzelgeflecht.

Fremdheitserfahrung, Diskriminierung und Exklusion können wiederum zu einer Wurzellosigkeit, zum Nomadismus führen. So weist der Vorzeigerusse in Deutschland, Wladimir Kaminer, darauf hin, dass die ganze Welt heute unterwegs zu sein scheint: „Wenn man woanders hingehen kann, ergibt es keinen Sinn mehr, seinen Staat zu retten.“ Die absolute Anpassung und Integration an das neue literarische Feld und die gewählte Schreibsprache von Vertretern der sogenannten Strebergeneration, nicht selten unter Leugnung der mitgebrachten Sprache und Identität, kann im Verlauf der Zeit zu einem Nachdenken über die Identität der Eltern und Großeltern führen. Dabei wird die Erkenntnis gefördert, dass „wir nur wachsen, wenn wir unsere Wurzeln pflegen“. Das schreibt die aus Schlesien stammende und in deutscher Sprache schreibende Alexandra Tobor (Sitzen vier Polen im Auto, 2012, Minigolf Paradiso, 2016).

Eng mit Fragen der Identität verbunden ist der Begriff der Heimat, des Zuhause-Seins, des Herkunfts- bzw. Erstlandes. Der aus dem ehemaligen Ostpreußen stammende Artur Becker prägte in der deutschen „Dienstsprache“ einen Neologismus: „Zuhäuser“. Weshalb sollten wir nicht mehrere Zuhäuser zugleich haben? Bei einigen Schriftstellern kommt ein nicht selten gewählter Schwebezustand bzw. ein bewusstes Dazwischen-Sein zwischen den Sprachen, Kulturen, Identitäten und Heimaten dazu. Auf diese Weise bereichern die „anderen“ Autoren die deutschsprachige Literatur um neue Themen, Probleme, Orte und Ereignisse. Dabei können auch bekannte Motive neu konnotiert bzw. transformiert werden. Der Begriff „deutsch“ bzw. „Deutschsein“ erhält in diesem Prozess eine andere Bedeutung. So beantwortet die aus Ungarn stammende Terézia Mora (Trägerin des Deutschen Buchpreises) die „deutsche Frage“ kurz und bündig: „Ich bin genauso deutsch wie Franz Kafka“, um ergänzend hinzuzufügen: „Er, in Prag geboren, Bürger des Habsburger Reiches, dann der Tschechoslowakei, ist ein Klassiker der deutschen Literatur.“

Foto: Ahmad Ardity auf Pixabay

Ein Kommentar zu “„Jenseits des Dazwischen“: Schreiben in fremder Sprache – Teil II”

  1. Olivier Elmer schrieb am 14.07.2020 um 12:57 Uhr:
    Kosmopolitinnen und Kosmopoliten wurde ja unter Stalin als "wurzellos" gebrandmarkt. Heute dient diese Stigmatisierung der Rechten als Kampfbegriff. Doch die schöne Wortneuschöpfung "Zuhäuser" zeigt auf, dass ein Mensch mehrere Wurzeln hat - und umso besser vielfältige (Schreib-)Früchte bringen kann!

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