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Zwischen Freiheit und Existenznot: Schreiben in Zeiten der Krise


6. Mai 2020

Dr. Kerstin Schimmel im Gespräch mit der Leiterin der Literaturschneiderei Sandra Miriam Schneider.

 

Mit vollem Recht wird heute viel von den Held*innen unseres Alltags gesprochen: der Kassiererin im Supermarkt, dem Altenpfleger, der Brummi-Fahrerin, die unser Toilettenpapier bringt, den Ärztinnen und Krankenpflegern. Doch gibt es nicht auch Held*innen der Kultur? Sind nicht diejenigen, die uns mit künstlerischen Mitteln aufklären und aufrütteln, ebenfalls systemrelevant? Ist es nicht hoch einzuschätzen, wenn in Zeiten des Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-seins Kreative da sind, die uns Mut machen, indem sie auf die Kulturschätze jenseits der Welt von Covid-19 verweisen? Machen uns in Zeiten von Kontaktsperre und Quarantäne all die guten Filme, Bücher, Musikstücke und Bilderrundgänge durch die Museen der Welt das einsame Leben nicht um vieles leichter?

Wenn Ensembles vor leeren Rängen spielen, um ein Theaterstück im Livestream zu uns nach Hause zu bringen, wenn Orchestermusiker*innen per Skype ein Konzert geben, die Schriftstellerin vom heimischen Balkon liest, dann bekommen sie sicher, und aus gebührendem Abstand, Applaus. Der ist verdient – aber reicht vor allem den Solo-Selbständigen auch der Verdienst? Können sie in diesen Zeiten überhaupt arbeiten?

 

Miriam, Du bist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, ausgebildeter Systemischer Coach sowie Gründerin und Leiterin der Literaturschneiderei und willst „Stoff für literarische Leidenschaft“ bieten. Deine Leidenschaft ist es, die literarischen Ideen von Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Zu diesem Zweck gibst Du Seminare in autobiographischem, achtsamem, literarischem und kreativem Schreiben. Zudem veranstaltest Du Storytravelling-Seminare und leitest Salons und Buchclubs.

Liegst Du jetzt durch Corona ausgebremst auf dem Sofa und zappst Dich durch Fernsehprogramme, von deren Existenz Du vor vier Wochen noch nicht einmal wusstest?

Sandra Miriam Schneider: Das ist eine schöne Vorstellung, mit Muße auf dem Sofa zu liegen und neue Fernsehprogramme zu entdecken oder Bücher zu lesen. Tatsächlich sehne ich mich nach dem, was viele Menschen in dieser Krisenzeit notgedrungen erfahren: ein zur Ruhe kommen, das Gefühl von Entschleunigung und die  Möglichkeit zur inneren Einkehr. Die Realität sieht leider anders aus: seit Ausbruch der Krise ist mein Arbeitsalltag noch fordernder und die Arbeitstage sind schlicht und ergreifend noch länger.

Ich bin beispielsweise mit Hochdruck dabei, neue digitale Workshop-Formate zu entwickeln und mit Institutionen gemeinsam zu überlegen. Außerdem nehme ich selbst an mehreren Webinaren, Zoom-Veranstaltungen und anderen digitalen Formaten teil, um aus der Teilnehmerin-Perspektive Erfahrungen zu sammeln und zu sehen, was für meinen Bereich des Schreibens, der Sprache und der Literatur tatsächlich fruchtbar sein könnte.

Zusätzlich gibt es jetzt natürlich vermehrt Netzwerkaktivitäten und eine besonders lebendige und umfangreiche Kommunikation mit Klient*innen und Seminarteilnehmer*innen, die wissen wollen, wie es mir geht. Das freut mich natürlich.

Ich wache morgens oft auf und es ploppt eine neue Idee durch meinen Kopf, die mich fasziniert. Die Herausforderung in diesen Wochen ist – jedenfalls für mich – einerseits möglichst schnell aktiv zu werden und alternative Formate und Inhalte anzubieten, andererseits aber nicht in einen übereilten Aktionismus zu verfallen, sondern neue Ideen auch angemessen reifen zu lassen. Hier die Balance zu halten und mit der eigenen Energie zu haushalten, ist nicht immer leicht.

 

Das Versammlungsverbot hat auch mich dazu gezwungen, nach neuen – digitalen – Möglichkeiten zu suchen, den potentiellen Tagungsgästen Inhalte nahezubringen und mit ihnen in den Diskurs zu treten. Auch die Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen im Homeoffice war am Anfang eine Herausforderung. Inzwischen sehe ich in vielem auch eine große Chance für zukünftige Arbeitsweisen. So ist mir bei den Teamkonferenzen per Skype oder Zoom zum Beispiel aufgefallen, dass die Konzentration auf die eigentlichen Themen viel größer ist und wir dadurch jede Menge Zeit für die eigene Arbeit gewinnen. Die Erfahrung, wie effizient auch in meinem Bereich mobiles Arbeiten sein kann, hätte ich ohne Corona nicht gemacht. Gab es auch für Dich positive Erkenntnisse und neue Wege, die Du weiter gehen wirst?

Sandra Miriam Schneider: Ja, mir geht es genauso. Ich bin ebenfalls fasziniert von den digitalen Möglichkeiten. Ich mache beispielsweise die sehr schöne Erfahrung, wie bereichernd es sein kann, in einem Webinar rein über den Bildschirm Kontakt zu fremden Menschen aufzunehmen, die irgendwo in Europa sitzen und mit ihnen zeitgleich zu schreiben.

Mich fasziniert außerdem, wie verschiedene analoge und digitale Workshop-Optionen methodisch auf eine Weise kombiniert werden könnten, so dass ein echter Mehrwert für die Teilnehmer*innen entstehen kann. Da bin ich wirklich auf die Zukunft gespannt und möchte diese auch mitgestalten.

Als Kreativitätstrainerin weiß ich übrigens diese besondere Atmosphäre, die gerade in der Luft liegt, sehr zu schätzen: diese Mischung aus Irritation und dem Gefühl, eben nicht alles kontrollieren zu können. Das fördert bei vielen Menschen die Fähigkeit des Improvisierens und Experimentierens sowie eine Art konstruktive Aufbruchsstimmung. Außerdem unterstützt sie die wertvolle Fähigkeit, nicht immer perfekt sein zu wollen … und dies auch den Mitmenschen zuzugestehen. Das sind alles kreativitätsfördernde Faktoren. Ist das nicht wunderbar?

 

Ja, diese knisternde Aufbruchsstimmung spüre ich – in all dem uns Erschreckenden – auch, und ich hoffe, dass wir manches davon über die Corona-Krise hinaus retten können.

www.literaturschneiderei.de

 

Foto: Engin Akyurt auf Pixabay

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