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Zwischen Freiheit und Existenznot: Kreative in Zeiten der Krise


29. April 2020

Dr. Kerstin Schimmel im Gespräch mit dem Regisseur und Videokünstler Jürgen Salzmann

Mit vollem Recht wird heute viel von den Held*innen unseres Alltags gesprochen: der Kassiererin im Supermarkt, dem Altenpfleger, der Brummi-Fahrerin, die unser Toilettenpapier bringt, den Ärztinnen und Krankenpflegern. Doch gibt es nicht auch Held*innen der Kultur? Sind nicht diejenigen, die uns mit künstlerischen Mitteln aufklären und aufrütteln, ebenfalls systemrelevant? Ist es nicht hoch einzuschätzen, wenn in Zeiten des Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Seins Kreative da sind, die uns Mut machen, indem sie auf die Kulturschätze jenseits der Welt von Covid-19 verweisen?

Machen uns in Zeiten von Kontaktsperre und Quarantäne all die guten Filme, Bücher, Musikstücke und Bilderrundgänge durch die Museen der Welt das einsame Leben nicht um vieles leichter? Wenn Ensembles vor leeren Rängen spielen, um ein Theaterstück im Livestream zu uns nach Hause zu bringen, wenn Orchestermusiker*innen per Skype ein Konzert geben, die Schriftstellerin vom heimischen Balkon liest, dann bekommen sie sicher, und aus gebührendem Abstand, Applaus. Der ist verdient – aber reicht vor allem den Solo-Selbständigen auch der Verdienst? Können sie in diesen Zeiten überhaupt arbeiten?

 

Jürgen, du bist Videokünstler, Regisseur, Performer und Schauspieler und seit 1994 in diesen Bereichen freiberuflich tätig. Du hast an Theatern u.a. in Berlin, Lissabon, Athen, Hamburg, Bremen und Hannover gewirkt, hast für Museen gearbeitet und als Lehrbeauftragter an diversen Bildungsinstitutionen. Das klingt nach Bewegung und ständigem Unterwegssein.

Denk ich in diesen Tagen an Dich, habe ich unweigerlich Hitchcocks  „Fenster zum Hof“ vor Augen, in dem ein Unfall den Fotografen Jeff in den Rollstuhl und somit zur Unbeweglichkeit zwingt. Seine Perspektive ist von da an auf die Nachbarwohnung begrenzt. Bleibt auch Dir als Perspektive nur das „Fenster zum Hof“? Wie arbeitest und (über)lebst Du in Zeiten des Lockdowns?

Jürgen Salzmann: Ich finde deinen Vergleich mit Jeff in „Fenster zum Hof“ sehr passend. Wenn ich also so aus meinem Fenster schaue, dann erscheinen mir im übertragenen Sinne meine Kolleg*innen hinter der Scheibe. Ganz konkret hätte diese Woche ein Treffen mit Künstler*innen aus Barcelona und Köln für Proben für ein neues Tanzstück stattgefunden. Jetzt ist der Computerbildschirm meine Fensterscheibe für den Kontakt zu ihnen geworden. In Videokonferenzen planen wir nun die Verlagerung der Tanzperformance ins Internet. Das heißt Konzeption, Proben und Aufführungen sollen komplett mit digitalen Möglichkeiten realisiert werden. Das heißt konkret: der Choreograf in Barcelona wird mit einer Tänzerin in Köln proben und ich werde dies von Berlin aus unterstützen. Wir sind alle gespannt, ob dies gelingen kann.

Trotzdem fehlt dem Team und mir der unmittelbare und direkte Kontakt, der ein zentraler Aspekt der Theaterarbeit ist. Wir vermissen die direkte Präsenz des Anderen, eine Atmosphäre, in der Ideen oft nur so sprudeln.

Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich aber auch Projekte, die nun nicht mehr stattfinden können. Wie zum Beispiel ein großes Opernprojekt in Tokio, für das ich als Videokünstler engagiert war und welches ursprünglich im Rahmen des Kulturprogramms der  Olympischen Spiele geplant war.

Wenn ich aus dem Fenster schaue, dann denke ich, als Kameramann gehst du jetzt raus und filmst all diese besonderen Einstellungen mit leeren Berliner Straßen und Orten ohne Menschen. Eine wahre Fundgrube für ungewöhnliches Filmmaterial für mögliche Projekte in der Zukunft.

Wenn ich aus dem Fenster schaue, freue ich mich darüber, vielleicht doch in der richtigen Stadt zu leben, weil sie sich der Situation ihrer Künstler*innen bewusst ist. Nach kurzer Zeit kam der beantragte Corona-Soforthilfe-Zuschuss bei mir an. Danke Berlin!

Ich als Jeff aus ‚Fenster zum Hof’ schiebe ein Bild vor mein Fenster: Zurzeit erarbeite ich zusammen mit dem Theater fensterzurstadt (nomen est omen!) Online-Vorstellungen älterer Produktionen mit Chatmöglichkeit während das Stück läuft sowie der Option, sich im Anschluss bei einem Zoom-Meeting „persönlich“ zu begegnen.

Mein Blick aus dem Fenster ist also auch ein Blick in die Vergangenheit. Es ist der Versuch, mit unserem Publikum in Kontakt zu bleiben und ihnen zu signalisieren, dass es uns noch gibt, dass wir es vermissen.

 

Viele Ideen, die Kreative derzeit ersinnen, sind aus der Not geboren. Doch vielleicht eröffnen sich hier auch neue Wege in die Zukunft nach Corona? Wie siehst Du das?

Jürgen Salzmann: Ich glaube, dass wir Künstler*innen und Kreative zumindest eine sehr gute Adresse für die Erweiterung und Erfindung neuer Kulturformate sind und einige davon werden sicher auch in Nach-Corona-Zeiten Bestand haben. Unser derzeitiges Verständnis von Kultur wird sich verändern. Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir uns alle stark bewegen müssen und dies auf sehr ungewohnten Pfaden, deshalb bin ich mir eigentlich sicher, dass sich das klassische Verhältnis zwischen Kulturschaffenden und Publikum zunehmend auflösen wird, hin zu mehr direktem Austausch, mehr Einfluss auf Inhalte und Gestaltung. Eigentlich Phänomene, die wir schon seit längerem aus den sozialen Medien kennen und die meiner Meinung nach ebenso im analogen Leben Platz finden werden.

 

Ich freue mich auf die neuen Kulturformate, aber auch auf die „alten“ persönlichen Begegnungen!

 

Foto: Pixa Pexel auf Pixabay

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